Über den Habitus der Stoiker

Zu Beginn dieses Artikels möchte ich zwei der verwendeten Worte und Begriffe etwas genauer umreißen und definieren. Einfach damit möglichst viele die den Willen dazu haben mit ins Boot steigen können, um an einer kleinen Rundreise teilzunehmen. Deshalb zuerst einmal ein etwas trockener Absatz. Danach wirds natürlich gleich wieder richtig spannend.

1.) Die Definition der Begriffe

Der Begriff des Habitus hat eine längere Geschichte und wird in unterschiedlichen Umwelten, unterschiedlich verwendet. Wenn Soziologen* vom Habitus sprechen meinen sie die Vorlieben, Gewohnheiten, Geschmack, Umgangsformen, die Art des Auftretens und die Attitüde einer Person.
Der Habitus spiegelt also eher die geistige, intellektuelle und kulturelle Komponente eines Menschen wider, nimmt aber kaum Bezug zur Physiologie einer Person.

Ein Stoiker ist ein Anhänger einer in der griechischen Antike entstandenen Schule der Philosophie.
Genannt Stoizismus. Der Stoizismus ist eine Weisheitslehre unter vielen anderen. Eine andere sehr
bekannte Weisheitslehre ist der Buddhismus. Und um es gleich zu sagen. Da Weisheit im Kern besagt
das man in der Lage ist, mit der Komplexität der Welt adäquat umzugehen, gibt es bei fast allen
Weisheitslehren dieser Welt gewisse Überschneidungen. In einigen Punkten unterscheidet sich der
Stoizismus vom Buddhismus deutlich, in einigen anderen Punkten wird man eine erstaunliche
Deckungsgleichheit feststellen.

2.) Die zeitlichen Epochen des Stoizismus

Zenon v. Kition (-333 bis -263)

Ziemlich genau 300 Jahre vor dem Jahre null unserer Zeitrechnung
gründete Zenon von Kition direkt in Athen diese Strömung der Philosophie. Aus Ermangelung eines eigenen Ortes für seinen Unterricht versammelte
er seine ersten Schüler* in einer der damaligen Säulenhallen, auf der nach
dem Volksglauben sogar ein Fluch lastete. (Es war ein ehemaliger
Hinrichtungplatz. Im kollektiven Gedächnis der Einheimischen
eingebrannt – war es für Zenon jedoch kein Hindernis.)
Die erwählte bunte Säulenhalle hieß <Stoa poikile>, welche dann auch für
die Namensgebung der Stoiker Patron stand. Zenon galt als einer der ganz
Großen. Er war nicht nur hervorragend gebildet, er schaffte es auch Leben
und Lehre, wie es nur wenigen gelang, in Einklang zu bringen.


Er selbst war das Musterbild stoischer Beharrlichkeit, so daß die Athener nach seinem Tode auf sein
Denkmal die Inschrift setzen ließen: “Sein Leben war seiner Lehre vollkommen gleich.” Die Philosophie
ist nach den Stoikern die Wissenschaft von der menschlichen Vervollkommnung, und um diesen Zielen
näher zu kommen, muß der Mensch nach Weisheit streben. Ein Weiser ist derjenige, der frei von
Leidenschaften ist und sich selbst überwindet. Die wahre Glückseligkeit besteht in einem harmonischen
Leben, zu dem man durch das Streben nach g*ttlicher Vollkommenheit gelangt.
Von da auch der Spruch: Stimme mit dir selbst überein, folge der Natur, lebe der Natur gemäß!

                                          Heute teilen wir die Stoa grob in drei Abschnitte –
                               Alte (-300 bis -150), Mittlere (-150 bis 0) & Späte (0 bis +180):



a.) Der erste Abschnitt, alte Stoa genannt, lief von 300 v.Chr. bis ca. 150 v. Christi.
Geprägt war diese Zeit durch den Gründer Zenon und seinen besten Schülern wie Kleanthes von
Assos
und Chrysipp von Soloi. Aus dieser Zeit gibt es praktisch keine von den Stoikern selbst
verfassten Texte mehr. Sie sind im Laufe der Zeit kaputtgegangen und können nur mehr ungefähr durch
die Rekonstruktion mithilfe später entstandener Schriften erfahrbar gemacht werden. Das zitieren
erfolgte zum einen selbst wieder durch Stoiker, oder aber durch Personen die die Stoiker nicht wirklich
leiden konnten. Deshalb muss man immer darauf achten, wer genau die Stoiker zitiert, das erfolgt nicht
immer in bester Absicht.

b.) Die mittlere Stoa lief von 150 v.Chr. bis zum Jahre 0 (Ein Jahr also das es theoretisch nicht gibt).
Zwei der bekanntesten Vertreter waren zu dieser Zeit Panaitios von Rhodos und Poseidonios aus Apameia. Auch die Schriften aus dieser Zeit sind oft nur mehr als Fragmente vorhanden.
Cicero (106 v.Chr. – 43 v.Chr.) hat jedoch die wichtigste Schrift von Panaitios von Rhodos mit dem Titel:
<De officiis> = (Vom pflichtgemäßen Handeln) zur Vorlage einer eigenen Schrift mit dem gleichen Titel gemacht.

c.) Die spätere Stoa, manchmal auch römische Stoa oder Stoa der Kaiserzeit genannt, läuft vom Jahre 1 bis zum Tod von Marc Aurel im Jahre 180 n.Chr. Diese spielt in weiten Teilen nicht mehr im antiken
Griechenland, sondern im antiken Rom. Rom löste ja kurz vor dieser Zeit – Athen als
“Weltmittelpunkt” ab.

Marcus Aurelius (röm. Kaiser von 161-180)


Marc Aurel, seines Zeichens römischer Kaiser von 161 n.Chr. –
180 n.Chr. schrieb ein Handbuch (Original in griechischer
Sprache) an sich selbst gerichtet. Verfasst hat er es vermutlich in
den letzten zehn seiner knapp 60zig Lebensjahre. In dieser Zeit
war er viel auf dem Schlachtfeld, wo er dann auch nahe
Vindobona (Wien) an einer nicht genauer feststellbaren
Erkrankung verstarb. Dieses Handbüchlein gibt es heute noch
unter dem Titel: <Selbstbetrachtungen> auf Deutsch zu kaufen.

Der Legende nach trug er bei seinem Tod das Manuskript noch in seiner Westentasche. Die erste Veröffentlichung fand aber erst deutlich später statt. Die ersten gedruckten Ausgaben kamen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auf dem Markt. Marc Aurels >Selbstbetrachtungen< sollen auch hiermit mein erster Buchtipp sein. Es kostet z.B. bei Reclam nur ein paar Euro und hat als kleines weiches Buch den Vorteil, das es praktisch in jede Jackentasche passt. Außerdem ist es ausgesprochen verständlich, lehrreich und sein Umfang kommt auf nicht mehr als 250 knappe Seiten. (Die Übersetzung >Selbstbetrachtungen< könnte man auch sinngemäß mit Selbstermahnungen bewerkstelligen.)

Weitere bekannte Namen aus dieser Zeit waren Seneca, der eine besondere Affinität zum Stoizismus pflegte, aber auch Gaius Musonius Rufus und natürlich Epiktet.

Nach dem inoffiziellen Ende der stoischen Schule mit dem Tod von Marc Aurel (+121 bis +180) erfolgte das offizielle Ende der stoischen Schule im Jahre 529 n.Chr. durch den römischen Kaiser Justinian. In diesem Jahr ließ er nicht nur die Akademie Platons, sondern auch zahlreiche weitere “heidnische” Schulen in Athen, darunter auch die stoische Schule, schließen.

Michel de Montaigne

Aber auch danach lassen sich in der Geschichte noch viele finden, die
man als Neo-Stoiker bezeichnen kann. Z.B. Michel de Montaigne (1533-
1592). Seine Essais strotzen nur so von stoischem Gedankengut und
Lebensweisheiten. Zumindest beeinflusst vom Stoizismus wurden
Erasmus von Rotterdam (1466 – 1536) und Guillaume Du Vair (1556 –
1621) und zahlreiche weitere. Auch Immanuel Kant (1724 – 1804) und
Michel Foucault (1926 – 1984) erwähnen an einigen Stellen in ihren
Büchern, löblich, die Weisheiten der Stoiker.

Vielleicht ist der Stoizismus seit seiner Gründung nie untergegangen.
Ich würde das nicht völlig ausschließen. 🙂



VIDEO-Link: Gespräch über Epiktet und Marc Aurel. Geführt zwischen den beiden kongenialen Partnern – Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach. (24 Minuten.)



3.) Positionen, Aussagen und Habitus der Stoiker:

a.) Ein tugendhafter Charakter ist eine Voraussetzung für ein glückliches Leben.
Eine Tugend ist in diesem Sinne nichts anderes als eine gewisse Leichtigkeit im tun des Guten/Richtigen.

b.) Jeder Stoiker steht für sich selbst. Kleinere Abweichungen zueinander sind weder verpönt noch verboten.

c.) Die philosophische Dreiteilung der Welt geschieht in den Kategorien: Physik, Logik und Ethik.
Wobei bei den meisten Autoren* die gute und richtige Ethik das oberste Ziel darstellt.
In bildlicher Vorstellung ist die Ethik die Frucht eines Baumes mit dem Namen Physik.
Und dieser Baum mit dem Namen Physik steht in einem Garten,
der durch eine Mauer abgesichert wird. Die Mauer wird in diesem Bild als Logik bezeichnet.
Die Stoiker sahen alle drei Bereiche als wären sie organisch miteinander verbunden.
Sie bilden zusammen eben ein synergetisches Ganzes. Der damalige Begriff der Physik hatte einen
Umfang, dass man ihn in heutigen Maßstäben – im deutschen als “Naturphilosophie” übersetzen
würde.



 

 

 

 

 

 

 

 

 

 


d.) Als erstrebenswerte Tugenden werden die eudaimonía (Glückliches Leben, Glückseligkeit), ataraxía (unerschütterliche Seelenruhe) die apátheia also die Affektfreiheit (heute: Affektarmut) und auch die autárkeia (Selbstgenügsamkeit) angesehen. Das zusammen soll helfen geistige Freiheit und Unabhängigkeit zu erlangen. (Im Übrigen ist die Übersetzung aus den griechischen Originalen ins Deutsche manchmal ausgesprochen frickelig.)

e.) Der gesamte Kosmos ist mit einer göttlichen Vernunft (lógos) durchflutet, an der auch wir Menschen teilhaben. Sich danach auszurichten ist der gewünschte Weg.

f.) – frei von den schwächen des Gemüts sein. (Nicht von Impulsen leiten lassen.)
– kein Heuchler sein.
– ohne Hinterlist und nicht vom Geiz gefangen.
– nicht anderen nach dem Mund reden.
– frei von Verschwendungssucht sein.
– unabhängig sein von allen Affekten (Gefühlen).

g.) Weitere Tugenden: Weisheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit, Seelengröße und Mäßigung.

h.) Keinen Zielen nachjagen, die der sittliche Entwicklung oder der Glückseligkeit widersprechen.

i.) Bei den Dingen die in deiner Macht stehen sei vorsichtig was du tust, bei den anderen Dingen
die nicht in deiner Macht stehen, sei zuversichtlich.

„Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht.
Wir beherrschen unser Denken, unsere Entscheidungen,
unsere Wünsche und Abneigungen, kurzum, alles, was sich aus uns selbst
heraus entwickelt. Wir beherrschen nicht unsere Körper, unseren Besitz,
unser Ansehen und unsere Stellung, kurzum, alles,
was sich nicht aus uns entwickelt.“ (Epiktet)

„Die wesentliche Aufgabe im Leben besteht darin, die Dinge zu erkennen
und voneinander zu unterscheiden, um mir klar machen zu können,
über welche äußeren Umstände ich keine Macht habe,
und welche von Entscheidungen abhängen, die in meiner Macht stehen.
Wo finde ich dann das Gute oder Böse? Nicht in den Dingen,
die nicht in meiner Macht stehen, sondern in mir selbst,
in den Entscheidungen, die ich treffe.“ (Epiktet)

j.) Angst vor dem Tod gibt es nicht.



k.) Wer frei sein will, darf nichts begehren und nichts fürchten, was in der Gewalt anderer Leute steht, andernfalls wird er von ihnen abhängig.

l.) “Man solle sich von der Diktatur der Begierden befreien.” – Sokrates (-469 bis -399).
Auf Sokrates haben sich die Stoiker oft und gerne positiv bezogen.

m.) Ist dein Leben eine Tragödie dann höre auf Gefühle zu haben, ohne Gefühle wird aus jeder Tragödie eine Komödie. Und das alles hängt und liegt nur an dir. Und an niemanden sonst.

n.) Halte deinen Verstand von Vorurteilen frei, damit du alles Prüfen kannst, ohne zu irren.

o.) Epoché! Wortlich bedeutet dieses Wort <Zurückhaltung>. Es bedeutet das man sich
eines Urteils enthaltet. Eine Idee die im Grunde der antiken Skepsis geschuldet ist.
Die Buddhisten gehen hier dann noch einen klugen Schritt weiter. Den die sagen:
“Ich verzichte schon auf eine Meinung.” Klug ist dieser Schritt weil sie ohne Meinung
der Urteilsbildung schon im Ansatz die Grundlage entziehen.

4.) Hier noch ein paar Originalzitate von …

Epiktet (~ 50 n. Chr. bis ~ +138† in Nikopolis)

.) Es sind nicht die Dinge selbst, die uns bewegen, sondern die Ansichten, die wir von Ihnen haben.
.) Der Weg zum Glück besteht darin, sich um nichts zu sorgen, was sich unserem Einfluss entzieht.
.) Weise ist der Mensch, der Dingen nicht nachtrauert, die er nicht besitzt, sondern sich der Dinge erfreut, die er hat.
.) Wir müssen die Dinge, die in unserer Macht stehen, möglichst gut einrichten, alles andere aber so nehmen, wie es kommt.
.) Es verrät geistige Armut, sich dauernd mit dem Körper zu beschäftigen, zum Beispiel zu viel Sport zu treiben, zu viel zu essen, zu viel zu trinken, zu oft seine Notdurft zu verrichten und seinem Sexualtrieb freien Lauf zu lassen. Nein, diese Bedürfnisse sollte man nur nebenbei befriedigen, und die ganze Aufmerksamkeit gelte der Entfaltung der geistigen Anlagen. [Sic!]

Seneca (gemalt)

Seneca (~ +1 bis ~ +65† nahe Roms):
.) Den größten Reichtum hat, wer arm an Begierden ist.
.) Zwei Dinge verleihen der Seele am meisten Kraft: Vertrauen auf die Wahrheit und Vertrauen auf sich selbst.
.) Nichts bringt uns mehr vom Weg zum Glück ab, als dass wir uns nach dem Gerede der Leute richten, statt nach unseren Überzeugungen.

.) Der Geist ist der Herr über sein Schicksal: Er kann sowohl Ursache seines Glücks als auch seines Unglücks sein.
.) Die Philosophie lehrt handeln, nicht schwatzen.
.) Glücklich leben und naturgemäß leben ist eins.



Marc Aurel (+121 bis +180†):

.) Sei tolerant bei anderen, aber streng mit dir selbst.
.) Dem Lauf der Dinge darf man nicht zürnen, denn er kümmert sich um nichts.
.) Betrachte einmal die Dinge von einer anderen Seite, als du sie bisher sahst, denn das heißt,
ein neues Leben beginnen.

.) Vergiss nicht – man benötigt nur wenig, um ein glückliches Leben zu führen.
.) Es gibt für den Menschen keine geräuschlosere und ungestörtere Zufluchtsstätte als seine eigene Seele. Halte recht oft solche stille Einkehr und erneuere so dich selbst.
.) Man muss mit seinen Gedanken nur bei dem sein, was gerade jetzt zu tun ist.

Ich hoffe, ich konnte hier einen kurzen einführenden Blick in die Welt des Stoizismus geben.
Neben Marc Aurel könnte auch ein guter Einstieg eines der indirekten Bücher von Epiktet sein.
Epiktet ist unter den Stoikern so etwas wie mein Geheimfavorit. Auch, wenn Seneca der etwas bekanntere von den beiden war. Im übrigen ist Stoiker ein geschlechtsneutraler Begriff.
Ein Stoiker ist also ein Mensch, der der Stoa Treue zugesagt und die stoische Schule – bis zu einem gewissen Grad – gemeistert hat. Das bedeutet das sie nicht nur belesen sind was Schriften oder Quellenwissen angeht, sondern das sie vorallem eine Menge geistige und charakterliche Trainings- und Übungszeit investiert haben. Einfach um die stoischen Werte – bis in ihr Unbewusstsein verinnerlicht zu bekommen.
Technisch beeinhaltet die Stoa also auch etwas, dass man mit Rückgriff auf die griechische Antike –
“Technologie des Selbstes” bezeichen könnte.

VIDEO-Link: Die Geschichte der Stoa. Gespräch zwischen Harald Lesch und Wilhelm Vossenkuhl.
(30 Minuten.)

Als auf diesen Artikel aufbauende & weiterführende Unterweisung in die Stoa ist dieser Artikel gedacht:
https://www.freismuth.org/wie-erlange-ich-glueckseligkeit/


—End-of-Topic—

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