Milchstraße.

Realismus/Naturalismus vs. Konstruktivismus in der Systemtheorie.

Sind sie ein Anfänger, wenn es um Systemtheorie geht, ist dieser Artikel vermutlich wichtig für sie. Leider findet man nirgends im Internet oder aber auch in Gesprächen den von mir hier geschilderten
Sachverhalt in so eindeutiger Form ausformuliert.

Es stimmt, es gibt nur eine einzige (Allgemeine)-Systemtheorie. Aber dabei gibt es einen Stolperstein, über den auch noch Theoretiker* stolpern, die man eigentlich schon als – ein wenig belesen bezeichnen könnte. Man kann seinem systemtheoretischen Denken nämlich mindestens zwei verschiedene Erkenntnistheorien zugrunde legen und dann hat das gesprochene plötzlich sehr schnell nichts mehr miteinander zu tun.

(Der Begriff “Allgemeine Systemtheorie” geht übrigens auf den Biologen Ludwig von Bertalanffy zurück. Seine Arbeiten bilden zusammen mit der Kybernetik (Wiener, Ashby) die grundlegenden Überlegungen dieses Wissenschaftsansatzes.)

Erkenntnistheorie ist im Kern ein Fachgebiet der Philosophie. Ich hatte zu Beginn meines wissenschaftlichen Arbeitens auf der Uni, das Massel, dass ich zwei Hauptthemen ganz zu Beginn durcharbeiten musste. Das erste war Wissenschaftstheorie und die wissenschaftliche Methode, also das richtige unterscheiden zwischen Wahr und Unwahr. Das seines Zeichens im Prinzip alles ist, was Wissenschaft überhaupt macht. Und als Zweites musste ich alle Reader zu den verschiedenen Erkenntnistheorien durcharbeiten. So ist Philosophie halt.

Das war und ist im übrigen imho der beste Anfang, den man braucht, um ein – durch und durch – wissenschaftlicher Mensch zu werden.

Nun zurück zur Systemtheorie und dem von mir erwähnten Stolperstein.

Es gibt zwei große Erkenntnistheorien, denen Systemtheoretiker* frönen. Das ist der Realismus/Naturalismus zum einen und der Konstruktivismus zum anderen.

1.) Vereinfacht kann man den Naturalismus als Steigerung des Realismus verstehen. Im Grunde ist dies aber eine Art und Weise – Erkenntnisse über die Welt zusammenzutragen, wie man sie wohl schon seit min. 3000 Jahren nachweislich praktiziert. Aus dieser alten Zeit stammt auch der Begriff System.
Unser heutiges Wort „System“ stammt vom altgriechischen Wort: systêma = Das soviel wie „Zusammenstellung“ heißt.

Dieser Systembegriff meint das, was die allermeisten heute noch unter dem Begriff System verstehen.
Er meint nämlich etwas Zusammenhängendes, das aus Elementen besteht und in irgendeiner Form miteinander verbunden ist. Damit kann man dann anfangen, Systeme in drei große Kategorien einzuordnen:

Die offenen, die geschlossenen und die abgeschlossenen Systeme. Offene Systeme tauschen alles mit ihrer Umwelt aus. Materie, Energie und Information. Geschlossene Systeme sind dann welche, die nur mehr Information/Energie, aber keine Materie mehr mit ihrer Umwelt austauschen, und abgeschlossene Systeme sind fast schon eher theoretischer Natur, weil diese mit ihrer Umwelt gar nicht mehr in Kontakt treten; weil sie weder Materie noch Information/Energie, in welcher Form auch immer, austauschen. Im Moment geht man davon aus, dass unser Universum ein solches abgeschlossenes System sein sollte. Auf unteren Systemebenen (Atome, Moleküle), dort wo Physiker* klassischerweise arbeiten – arbeiten sie mit dieser Auffassung von Systemen. Und ich kann ihnen sagen. Als Physiker* funktioniert das mehr als hervorragend.

Übrigens: Auf der Erde können sie abgeschlossene Systeme nur unter gewissen Bedingungen und dann auch nur kurzfristig im Hochvakuum herstellen. In der Praxis brechen allerdings die von Menschen gemachten abgeschlossenen Systeme relativ schnell wieder in sich zusammen, einfach, weil die notwendige Isolation sehr schwer zu erhalten ist.

2.) Der Konstruktivismus ist in weiten Teilen eine Kreation der letzten 100 Jahre. Auch, wenn z.B. Friedrich Nietzsche(1844-1900) an einigen Stellen in seinen Büchern einige Grundannahmen der Konstruktivisten schon zu formulieren wusste.

Das konstruktivistische Denken erfordert nicht nur Studium, sondern auch eine Menge Übung, weil die Art die Dinge zu denken völlig unterschiedlich ist. Ich werde ihnen später noch zeigen, auf welchen Systemebenen sie traditionell Realisten/Naturalisten – und auf welcher sie bevorzugt Konstruktivisten finden. Wichtig ist aber, dass sie verstehen, was Konstruktivismus ist. Realismus/Naturalismus traue ich ihnen zu das sie verstehen, weil das sozusagen in unserer Gesellschaft der Standardmodus ist auf dessen Basis gedacht und kommuniziert wird.

Friedrich Nietzsche hat den konstruktivistischen Grundgedanken in „Menschliches“ auf Seite 9. so formuliert:

        „Die Welt, soweit wir sie erkennen können, ist unsere eigene Nerventätigkeit, nichts mehr.“

Ich möchte hier jetzt Nietzsche nicht zum ersten aller Konstruktivisten machen, auch seine Rede basiert auf den Reden hunderter anderer (oft dem Idealismus folgenden) vor ihm, aber im Kern ist das der Startpunkt. Nichts das wir denken, nichts das wir sehen, nichts das wir riechen, nichts das wir spüren ist – außerhalb unseres Nervensystems. Es ist also alles, was für uns ist – immer nur innerhalb unseres eigenen Nervensystems als Nerventätigkeit vorhanden. Und von daher ist alles immer schon – nur in uns konstruiert. Und erst einmal nicht mehr.

Diese Erkenntnis wird manchmal von Leuten persifliert, die dann zumindest den radikalen Konstruktivisten vorwerfen, dass es demnach eine Welt außerhalb unseres Denkens gar nicht gibt. Zumindest, wen man nicht gerade hinsieht. Das ist aber eine böswillige Fehlinterpretation des Konstruktivismus. Der Konstruktivismus sagt nicht das es nichts außerhalb unseres Nervensystems gibt, aber er sagt das alles denken und fühlen immer nur innerhalb unseres Nervensystems geschehen kann und nie außerhalb. Das ist dann eigentlich schon wieder ein ziemlich realistischer Konstruktivismus.

Da wir also sowieso schon damit leben müssen, dass alles in der Welt von uns selbst konstruiert ist, kann man ja auch gleich die Auffassung darüber, was ein System ausmacht, über den Haufen werfen und eine eigene Sicht darauf kreieren. Und das tat man als erstes wohl mit dem Begriff und der Überlegung der Autopoiesis.

Und der daraus entstehende Systembegriff hat mit unserem alten Systembegriff des systêma“ nichts mehr gemein. „Für den Konstruktivismus ist der menschliche Organismus ein System, das zwar energetisch offen und mit der Umwelt strukturell gekoppelt ist. Er ist aber gleichzeitig informationell geschlossen, sodass das Gehirn [B.F., Nervensystem] nur auf die bereits verarbeitete und interpretierte Information von außen reagiert„ (Stangl, 2020).

Nichts und niemand kann in unser Nervensystem hineingreifen. Das einzige, was man einem Nervensystem anhaben kann, ist, dass man es über strukturelle Kopplungen irritiert. Damit ist ein konstruktivistisch gedachtes System kein System mehr, welches sich in die klassischen Kategorien – offen – geschlossen – abgeschlossen – einordnen lässt. Es folgt nur mehr seinen Eigengesetzmäßigkeiten und wird im Endausbau nur mehr über Funktion oder Operation beschrieben. Nicht mehr über seine Elemente.

Ein bekanntes Beispiel dafür ist Niklas Luhmann – dessen soziologische Systemtheorie deswegen oft so schwer zu verstehen ist, weil die Leute versuchen, seine autopoietischen, operativ geschlossenen und binär nach Operationen codierten sozialen Systeme, als Systeme zu sehen, wie es Realisten/Naturalisten tun.

Aber Luhmanns Systeme bestehen nicht mehr aus Elementen, sondern ausschließlich aus Operationen, die Luhmann Kommunikation nennt. Dabei schließt eine Operation immer nur (oder auch einmal nicht) an die nächste Operation an. Das heißt – Kommunikation trifft auf Kommunikation trifft auf Kommunikation trifft auf Kommunikation u.s.w.

Und um es noch einfacher verständlich zu machen, ein Beispiel aus der Praxis,
das wohl die meisten kennen werden: Wer tötet?! Ist es die Waffe oder der Mensch?!
Nun, genaugenommen ist es die Kugel. Es ist die Kugel, die tötet.

Sie sehen. Die Auffassung, was ein System überhaupt ist, ist bei Realisten/Naturalisten anders als bei Konstruktivisten. Und beide Systemauffassungen sind nicht miteinander kompatibel. Man kann auch nicht die eine Auffassung von System einfach durch die andere Auffassung von System ersetzen. Es gibt auch kein entweder-oder, sondern nur ein sehr buddhistisches sowohl-als-auch bei der systemischen Auffassung der Welt. (Wissenschaftler* gucken bei N.Bohr: Komplementarität.)

P.s.: Weil das aus Zeitgründen gar nicht zur Sprache kam. Systemtheoretiker* beobachten immer wiederkehrende Spielmechaniken, Prozessmuster und deren Wechsel – als auch viele verschiedene unterschiedliche Phänomene in ihren Systemen. Z.B. die Selbstorganisation, die Muster b.z.w. Strukturbildung, Nichtlinearitäten und unzählige weiter Phänomene. Und diese Dinge verbinden in einer Art übergeordneten Rahmen alle Systemtheoretiker* b.z.w. Systemtheorien. Aber man muss gut darauf aufpassen, welche Erkenntnistheorie und welche Auffassung von System das Gegenüber hat, mit dem man spricht. Das kann zu großen Missverständnissen führen. Und mischen sie die verschiedenen Auffassungen von System nicht, den das wäre schlicht und ergreifend falsch, passiert den Leuten
aber immer mal wieder.

Besonders in allerhand Managementliteratur findet man eine wilde Vermischung der Dinge. Da wird in
einem Satz eine Organisation beschrieben wie man sie vielleicht noch von Talcott Parsons kennt, dann
kommt irgend eine Bauernschläue die auf dem Naturalismus basiert und im nächsten Absatz werden die
Autoren* wieder durchgängig konstruktivistisch…
Ich danke ihnen für ihre Ausdauer und Aufmerksamkeit und hoffe, sie konnten für ihr Denken etwas aus meinem Artikel mitnehmen.

—End-of-Topic—

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